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Neue EU-LGBTIQ-Strategie stärkt Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung

Über die Bedeutung der neuen EU-LGBTIQ-Gleichstellungsstrategie spricht Caroline Ausserer mit Richard Köhler. Er ist Senior Policy Officer bei Transgender Europe (TGEU), der Dachorganisation für die Rechte von trans* Menschen in Europa und Zentralasien mit insgesamt 157 Mitgliedsorganisationen in 47 verschiedenen Ländern.


Caroline Ausserer: Am 12. November 2020 hat die Europäische Kommission die erste umfangreiche LGBTIQ Strategie unter dem Titel „Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Gleichstellung von LGBTIQ Personen 2020-2025“ veröffentlicht. Dabei sind Gleichheit und Nichtdiskriminierung ja Grundwerte und Grundrechte in der Europäischen Union. Warum braucht es dann eine eigene LGBTIQ-Strategie der EU?

Richard Köhler: Die Werte und Rechte der EU gelten für alle Menschen. Trans* Menschen erfahren aber nach wie vor täglich Ausschluss, Diskriminierung und Gewalt. Ob in der Schule, am Arbeitsmarkt, beim Arzt oder beim Einkaufen: Mehr als jede zweite trans* Person hat im letzten Jahr Diskriminierung erlebt, wie die EU Grundrechteagentur feststellt. Wir sind besonders besorgt, dass es vor allem jüngere und trans*-weibliche Menschen trifft. Es braucht konzentrierte Anstrengungen, wie die EU LGBTIQ-Gleichstellungstrategie, um Gleichheit und Nichtdiskriminierung für alle trans* Personen eine Wirklichkeit werden zu lassen.


Caroline Ausserer: Helena Dalli, die EU-Gleichstellungs-Kommissarin will, „dass sich alle Menschen in der Europäischen Union sicher und frei fühlen und keine Angst vor Diskriminierung oder Gewalt aufgrund der sexuellen Ausrichtung, der Geschlechtsidentität, des Ausdrucks der Geschlechtlichkeit oder der Geschlechtsmerkmale haben sollten”. Inwiefern kann die Strategie im Kampf gegen Gewalt und Diskriminierung in der gesamten EU unterstützend wirken?

Richard Köhler: Wir wissen, dass positive Maßnahmen von öffentlicher Hand, die sich dezidiert mit der Lebenssituation von trans* Menschen beschäftigen, Strukturen und Einstellungen in den Köpfen von Menschen nachhaltig verändern. Ignoranz und abfällige Einstellungen gegenüber geschlechtlicher Vielfalt bereiten den Nährboden für Hass und Gewalt gegen trans* Menschen. TGEU hat in 2020 für die letzten 12 Monate 350 Morde an trans* Menschen weltweit dokumentiert. Davon wurden elf Menschen in Europa umgebracht. Jede zweite ermordete Person hier hatte einen Migrationshintergrund. Deswegen ist es so wichtig, dass die EU eine Führungsposition übernimmt und die Aussagen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Leben füllt. Sie hatte in ihrer „State of the Union“-Ansprache erklärt, dass die EU ein sicherer Hafen für alle sein müsse, unabhängig wer man sei (geschlechtliche Identität) oder wen man liebe (sexuelle Orientierung). Die Verbindung der LGBTIQ-Strategie zu anderen EU-Strategien, z. B. zu Geschlechtergleichstellung ist besonders wichtig, um effektiv gegen Gewalt vorzugehen, die Menschen aufgrund ihres Geschlechts trifft. Dazu gehören auch trans* Menschen, die an den Grenzen der Zweigeschlechtlichkeit oft die volle Brutalität zu spüren bekommen.


Caroline Ausserer:
Laut der letzten LSBTI-Umfrage der EU-Grundwerte-Agentur gaben im Jahr 2019 rund 43 Prozent der LSBT-Personen an, dass sie sich diskriminiert fühlten – gegenüber 37 Prozent im Jahr 2012. Inwiefern hat die COVID-19-Krise zu neuen Belastungen für die schutzbedürftigsten gesellschaftlichen Gruppen geführt, inklusive LSBTI-Personen?

Richard Köhler: Covid-19 setzt trans* Menschen als einer besonders vulnerablen Gruppe sehr zu. Beständige Diskriminierungserfahrungen führen dazu, dass der allgemeine Gesundheitszustand bei trans* Menschen schlechter ist als in der Allgemeinbevölkerung. Sie haben eher chronische Erkrankungen und vermeiden es aus Angst vor Diskriminierung eher zum Arzt zu gehen. Unsere Mitgliedsorganisationen berichten, dass trans*-spezifische Gesundheitsversorgung oft nicht Teil der verbliebenen Notfallversorgung ist. Jede zweite trans* Person beklagt hier Einschränkungen durch die Pandemie. Dies belastet trans* Menschen zusätzlich zu den sozioökonomischen Problemen. Trans* Menschen sind überwiegend im Niedriglohnsektor angestellt oder sind oft selbständig. Besonders sorgen wir uns um trans* Sexarbeiter*innen und deren Familien, die ihre Einkommensquelle verloren haben. Ausgehbeschränkungen bedeutet nicht nur, dass lebenswichtige soziale Interaktion mit anderen trans* Menschen oder das Aufsuchen von Beratungsstellen nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. Gerade junge oder ökonomisch schwach aufgestellte trans* Menschen sind oft gezwungen auf engstem Raum mit Familienmitgliedern zu leben, die ihre Geschlechtsidentität ablehnen. Dies führt zu massiver psychischer und physischer Gewalt.


Caroline Ausserer:
Welche Maßnahmen sind in der Strategie enthalten, die Sie besonders hervorheben möchten und welche sind insbesondere für trans* Personen besonders wichtig? Welche Maßnahmen fehlen bzw. welcher Bereich ist nicht abgedeckt?

Richard Köhler: Das wichtigste an der LGBTIQ-Strategie ist, dass sie ganzheitlich das Arbeiten der EU-Kommission in den Blick nimmt. Denn trans* Menschen sind nicht nur eindimensional. Es braucht Anstrengungen im Bereich Arbeitsmarkt, Strafverfolgung, Gesundheit, öffentliche Meinungsbildung und Unterstützung der Zivilgesellschaft, um die Situation nachhaltig zu verbessern. Und darüber hinaus. Es ist außerdem wichtig, dass die EU den Austausch zwischen Mitgliedsstaaten fördern will, um die rechtliche Anerkennung des Geschlechts zu verbessern. Es ist ein wichtiges Signal, dass die Kommission sich klar für ein Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung ausspricht.

Aktivitäten im Bereich Gesundheit sind noch eher offen formuliert. Dieser Bereich ist sehr wichtig für trans* Menschen. Die WHO hat klargemacht, dass Geschlechtsidentität keine Krankheit ist. Die Europäische Kommission sollte daher verstärkt mit den Mitgliedsstaaten arbeiten, um ein Umdenken in den Köpfen zu erreichen. Als Ergebnis wünschen wir uns eine angemessene Gesundheitsversorgung für trans* Menschen, die geschlechtliche Vielfalt wertschätzt und damit auch die restliche Gesellschaft beeinflusst. Sorgen macht uns, dass der Bereich Asyl nur sehr begrenzt durch die Strategie abgedeckt ist. Natürlich sind Verbesserungen in der Unterbringung und die Sensibilisierung von Entscheider*innen wichtig. Aber der Vorschlag zur Reform des europäischen Asylsystems wird dazu führen, dass trans* Menschen, die vor Gewalt und Hunger fliehen, überhaupt nicht mehr in der Lage sind, einen Antrag auf Asyl zu stellen.


Caroline Ausserer:
Einen besonderen Bereich der Strategie bildet der Schutz von Regenbogenfamilien. Wie ist hierzu die Situation in Europa und Deutschland und in welchem Bereich sehen Sie hierzu Ergänzungsbedarf?

Richard Köhler: Jede fünfte trans* Person in der EU ist auch Elternteil, laut EU-Grundrechteagentur. Dies ist sehr erfreulich, angesichts einer ganzen Reihe von Hürden und Herausforderungen, die sich trans* Eltern und solche die es werden wollen gegenübersehen. Erstens müssen sich trans* Menschen in sechs Mitgliedstaaten einer Sterilisation und anderen medizinischen Eingriffen unterziehen, die sich auf ihre Fruchtbarkeit auswirken können, als Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung des Geschlechts. Zweitens fehlt es trans* Menschen, die eine geschlechtsangleichende Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen, an Unterstützung, um ihre Fortpflanzungsfähigkeit zu erhalten. Drittens werden trans* Menschen beim Zugang zu assistierter Reproduktionstechnologie, Adoption und Pflege diskriminiert. Viertens: Trans* Eltern werden selten in ihrer Geschlechtsidentität anerkannt – weder in ihren eigenen Dokumenten noch in denen ihrer Kinder. Fünftens: Trans* Eltern sind oft gezwungen, sich scheiden zu lassen und ihre Familien aufzulösen – als Voraussetzung für die rechtliche Geschlechtsanerkennung – und werden bei Sorgerechtsverfahren diskriminiert. Sechstens: Trans* Eltern leben in Familien, die gesetzlich nicht anerkannt sind, und ihnen werden Rechte und Schutzmaßnahmen verweigert. Und schließlich werden trans* Eltern und ihre Kinder aufgrund der Geschlechtsidentität oder des Geschlechtsausdrucks des Elternteils belästigt und diskriminiert.

Familien mit trans* und geschlechtsdiversen Kindern stehen ebenfalls vor einer Vielzahl von Problemen.

Die Problemlage ist also komplex. Deswegen ist es zu wenig, wenn sich die EU Kommission dafür einsetzen will, dass die Elternschaft einer Regenbogenfamilie nicht nur in einem, sondern in allen EU-Mitgliedsländern anerkannt wird. Leider ist da die Kompetenz der EU bisher begrenzt. Wir würden uns hier eine ähnliche Kreativität und Dynamik wie für die Bereiche Finanzen oder Migration wünschen, um Familien mit trans* Angehörigen zu unterstützen.


Caroline Ausserer:
Die Strategie baut auf der Liste von Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung von LGBTI auf. Sie ist mit anderen strategischen Rahmen und Strategien der Europäischen Kommission verknüpft, z. B. dem kürzlich angenommenen EU-Aktionsplan gegen Rassismus 2020-2025, der Strategie für die Rechte von Opfern und der Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter. Inwiefern sehen Sie den Anspruch auf ein intersektionales Herangehen in der Strategie eingelöst?

Richard Köhler: Die Strategie benennt intersektionale Erfahrungen von LSBTI-Menschen explizit. Die ist wichtig und wird sich hoffentlich auch in der Umsetzung zeigen. Wie bereits erwähnt, ist eine enge Abstimmung mit dem Bereich der Geschlechtergleichstellung nötig, da nach EU-Recht „Geschlechtsangleichung“ als geschütztes persönliches Merkmal in den Bereich der Geschlechtergleichstellung fällt.

Die Erfahrung unserer Mitgliedsorganisationen zeigt, dass Rassismus für viele trans* Menschen of Colour ein ständiges Problem ist. Trans* Menschen of Colour mit Migrationshintergrund sind hier besonders betroffen. Deswegen reicht es nicht aus Hassverbrechen als sogenannte EU-Verbrechen rechtlich zu definieren, wie die Strategie es vorsieht. Wir brauchen deswegen auch hier Maßnahmen, die Rassismus wie auch Trans- oder Homophobie klar benennen und besonders betroffene Communities unterstützen.


Caroline Ausserer:
Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität, sowie Geschlechtsausdruck fallen unter unterschiedliche rechtliche Rahmenwerke (Frameworks) in der EU: jene der Antidiskriminierung und jene der Gender Equality. Könnten Sie die beiden Rahmenbedingungen bitte kurz erläutern? Und welche Schutzinstrumente bietet die EU diesbezüglich?

Richard Köhler: Mitgliedsstaaten müssen sicherstellen, dass bei der Umsetzung von EU-Recht niemand diskriminiert wird. Dabei achtet die EU besonders auf eine begrenzte Anzahl an geschützten persönlichen Eigenschaften, wie z. B. Geschlecht, ethnische Herkunft, Religion, politische Anschauung, Behinderung, Alter oder sexuelle Orientierung einer Person. Dies ist z. B. in der EU Grundrechtecharta (Artikel 21) festgelegt. Trans* Menschen kommen da also erstmal nicht vor. In verschiedenen Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof aber festgestellt, dass Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsangleichung einer Person nicht mit dem EU-Grundsatz der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern vereinbar ist. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Diskriminierung aufgrund einer Geschlechtsangleichung ihren Ursprung darin hat, dass eine Person den Erwartungen, die an sie aufgrund des (ursprünglich) registrierten Geschlechts gestellt werden, nicht gerecht wird. Deswegen sind trans* Menschen am Arbeitsmarkt und im Zugang zu Gütern und Dienstleistungen durch EU-Recht im Bereich Geschlechtergleichstellung geschützt. Allerdings ist die Formulierung „Geschlechtsangleichung“ veraltet und uneindeutig. Es ist zum Beispiel nicht klar, ob auch nicht-binäre oder trans* Menschen, die keine Körperveränderungen vornehmen hierunter geschützt sind. In anderen Bereichen, wie zum Beispiel Asyl oder den Rechten von Opfern von Gewalt ist das EU-Recht weiter. Es schützt explizit Menschen aufgrund ihrer Geschlechtsidentität – und ihres Geschlechtsausdrucks. D. h. nicht-binäre und auch andere trans* Menschen ohne medizinische Maßnahmen fallen darunter. Wir wünschen uns, dass es einen einheitlichen Schutz aufgrund der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks in allen Bereichen des EU-Rechts gibt. 


Caroline Ausserer:
Organisationen der Zivilgesellschaft, die die Rechte der LGBTIQ-Bevölkerung schützen und fördern, berichten zunehmend über Feindseligkeiten, die mit dem Aufstieg von Anti-Gender- und Anti-LGBTIQ-Bewegungen zusammenfallen. Wie erklären Sie sich diese Einigkeit zwischen doch sehr unterschiedlichen Bewegungen? Und wie besorgniserregend ist Ihrer Meinung nach die aktuelle Lage in Europa?

Richard Köhler: Akteure, die gegen die Gleichberechtigung von Frauen sowie gegen Rechte von LSBTI Menschen arbeiten, sind schon lange darin verbündet. Durch das Erstarken von populistischen Parteien und rechtsextremen Positionen sind sie mittlerweile auch in Regierungen und wichtigen Institutionen angekommen. Trans* Menschen sind dabei ein willkommener Sündenbock. Wir sehen mit großer Sorge, dass trans* Menschen verstärkt körperlich aber auch medial angegriffen werden. Dazu kommt, dass trans* Menschen keine starke Lobby haben. Deswegen ist die EU-LGBTIQ-Gleichstellungsstrategie so wichtig als Zeichen, dass trans* Menschen Teil der Gesellschaft sind.

Im Sommer 2020 hat die rechte Regierung in Ungarn unter dem Deckmantel von Corona-Maßnahmen ein Gesetz erlassen, was die Änderung des Geschlechtseintrags unmöglich macht. In Großbritannien hat die konservative Regierung nur zu gern auf Stimmen gehört, die vor einem Recht auf geschlechtlicher Selbstbestimmung gewarnt haben mit dem Hinweis dadurch würde der Schutz von Frauen unterminiert. Dies ist völliger Unsinn. Länder, die geschlechtliche Selbstbestimmung eingeführt haben, wie Malta oder Norwegen, habe keine Nachteile für Frauen feststellen können. Auch progressiven Kräften ist das Thema Geschlechtsidentität nicht geheuer; es ist ihnen zu fremd und wohl auch zu intim. Solange trans* Menschen vor allem als Fall für das Gesundheitswesen angesehen werden – entweder um eine sogenannte „Geschlechtsidentitätsstörung“ zu beheben oder, in der milderen Form, um geschlechtsangleichende Maßnahmen vorzunehmen – werden sich nur wenige den Populisten entgegenstellen. Wir brauchen ein breites Bündnis gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und für Vielfalt.


Caroline Ausserer:
Vielen Dank für das Gespräch!


Links:

EU-Strategie Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Gleichstellung von LGBTIQ Personen 2020-2025

Union of Equality: LGBTIQ Equality Strategy 2020-2025

Transgender Europe (TGEU)

Transrespect versus Transphobia Worldwide Project of TGEU

A long way to go for LGBTI equality, European Union Agency for Fundamental Rights